[September 1890: von Rio de Janeiro nach Süden]
Die für uns bestimmten Leute mit ihrem Gepäck kamen in zwei grossen Leichtern bald langseits des Schiffes, wurden übergenommen und gezählt und dann unter dem Sonnensegel des im Uebrigen ungeschützten Hinterdecks untergebracht. Die „Victoria“ ist ein sehr seetüchtiges, aber eins der kleinsten Boote des brasilianischen Lloyd, für Einwandererbeförderung absolut nicht eingerichtet und da das Schiff bereits ziemlich volle Fracht hatte, als die Immigranten visirt wurden, so war selbst im Laderaum nur wenig Platz frei für dieselben. Sie installirten sich also so gut sie konnten auf dem Hinterdeck und in den bedeckten Gängen auf Deck, sodass für die Passagiere erster Klasse während der ganzen Reise so gut wie kein Platz zum Promeniren auf Deck blieb. Capitain, Officiere und Mannschaft muss man mit uneingeschränktem Lobe nachsagen, dass sie thaten, was ihrer Macht stand, um den Einwanderern die Fahrt zu erleichtern, aber ausser den bereits angedeuteten Platzmängeln stellten sich bald noch andere Uebelstände ein. Von den armen Einwanderern sprach noch Niemand portugiesisch, an Bord mit Ausnahme von mir Niemand deutsch, und der Mangel eines Dolmetschers, dessen Stelle ich auf dieser Reise gern übernahm, machte sich in der ersten Stunden fühlbar.
Als die Leute ihre Lagerstellen bereiten wollten, waren ihre Betten, Matten und Decken mit dem anderen Gepäck zusammen im Raume weggestaut worden und für die kühle, feuchte Nacht doch so unentbehrlich; die Kinder hatten seit Mittag keine Nahrung bekommen und wenigsten die Kleinsten verlangten nach etwas Milch. Ich trat meinen freiwilligen Dolmetscher-Dienst sofort an und fand bei der Schiffssbemannung willigstes Gehör. Ein Arzt an Bord wäre auch recht nöthig gewesen, denn die Leute waren noch vierwöchentlicher Reise von ihrer Heimath her theilweise angegriffen, Kinder in Folge ungewohnter Nahrung krank. Es war aber kein Arzt an Bord; „dieselben wären doch immer nur selbst seekrank und ausserdem lief man ja jeden tag einen Hafen an, wo ein Arzt an Bord käme“, sagte man mir erklärend, und soweit er es verantworten zu können glaubte, medicinirte der Capitain aus seiner kleinen Schiffsapotheke. Zwei Kinder starben an Bord während der achttägigen Reise bis nach Porto Alegre.
Die Beköstigung der Immigranten ist gut und besteht in Kaffee des Morgens, genügend Fleisch oder Fisch zum Frühstück und zu Mittag, Thee des Abends, dazu reichlichen Schiffszwieback. Wenn man bedenkt, dass der Capitain für Beköstigung der Immigranten per Kopf und Tag nur 700 Reis bekommt, wird man zugeben, dass dafür verhältnissmässig viel geleistet wird. Es besteht bei den brasilianischen Passagierdämpfern nämlich die Sitte – oder Unsitte – dass die Beköstigung an Bord von der Compagnie mit dem Capitain contrahirt wird. Früher bekam der Capitain dafür die Hälfte des Passagierpreises heruntergeschnitten und die meisten Capitaine sparten nun ihrerseits an Qualität und Quantität der Beköstigung, um sich schadlos zu halten. Heutigen Tags vergütet der brasilianische Lloyd seinen Capitainen für Beköstigung 2 $ 600 Reis für Passagiere, 1$ 400 Reis für Officiere, 800 Reis für Mannschafen, 700 Reis für Immigranten per Kopf und Tag. Bei Passagieren und Officieren ist in dem Preis auch noch Lieferung con Tischwein à discretion mit einbegriffen, und Kaffee des Morgens, zwei warme Mahlzeiten zu je vier Gängen und Thee des Abends zu diesem Preise zu liefern, geht in der That nur auf Kosten der Qualität an. [...]