Aus dem Hamburger Staatsarchiv ...

Grenzkontrollstationen und russische Auswanderer: ein Bericht von 1906

(Unveränderte Wiedergabe des Original-Wortlauts)

Kiliszewski Bericht

Auswandererhallen
Hamburg
Polizeibureau
No. 1524/06. Ausw.

Hamburg, den April 1906

Zur Vervollständigung meiner Reiseberichte erlaube ich mir, über die Umgehungsfahrten mit Auswanderern das Folgende gehorsamst zu berichten.

Schon vor dem Errichten der Kontrollstationen an den russischen Grenzen haben die unzähligen für die verschiedensten Schiffsgesellschaften arbeitenden Agenten mit den russischen Auswanderern, die sie in bestimmte Hafenplätze abliefern wollten, große Umgehungen machen müssen, um den damals das russischen Auswanderungsgeschäft beherrschenden Agenten der Hamburg-Amerika-Linie zu entgehen.

Der Norddeutsche Lloyd legte seiner Zeit sein Hauptaugenmerk auf die aus Oesterreich kommenden Auswanderer, doch nebenbei beförderte er auch Russen.

Seit dem Errichten der Kontrollstationen haben sich die beiden deutschen Schiffsgesellschaften das russische Auswanderergeschäft geteilt.

Das oesterreichische Geschäft behauptete der Lloyd und musste die Hamburg-Am.-Linie von dem an den Lloyd verlorenen oesterreichischen Auswanderergeschäft nach und nach Teile zurückerobern.

So gut die Grenzkontrollstationen als Schutzmauer für das deutsche Reich auch sind, dem russischen Schlepper und Unteragenten, mit welchem die deutschen Auswandereragenten usw. zu arbeiten gezwungen sind, sind sie ein Dorn im Auge. Früher diktierte der russische Schlepper dem deutschen Agenten die Höhe der Provision; jetzt ist der in der Grenzkontrollstation arbeitende Agent, der an eine bestimmte Provision gebunden ist, nicht mehr in der Lage, dem Schlepper Provisionen in beliebiger Größe zu zahlen.

Jeder eine Grenzkontrollstation übernehmende Agent muß sich einige Schlepper und Unteragenten sichern, damit diese Auswanderer für seine Station anschaffen.

Nicht jeder mit einem deutschen Agenten verhandelnde Schlepper ist mit dem zufrieden, was ihm der Agent bieten kann. Verschiedene Schlepper und Unteragenten haben selbst Auswandereragenturen in Russland errichtet und auf Konzessionen für russische Hafenplätze (Libau) von der russischen Regierung erhalten.

Ein großer Teil der Schlepper ist dem deutschen Agenten untreu geworden und hat sich größere Provisionen dadurch verschafft, daß er mit fremden Schiffsgesellschaften in Verbindung getreten ist. Dieser Schlepper kann den fremden Schiffsgesellschaften nur dann Auswanderer zuführen, wenn er mit seinen Leuten die Kontrollstationen umgeht.

Durch solche Schlepper entstehen die hier zu besprechenden Umgehungen, deren Höhe jedoch nicht zu kontrollieren ist. Durch diese Schlepper werden auch russische Auswanderer die bereits im Besitze einer deutschen Schiffskarte sind, unter Umgehung der Grenzkontrollstation und auf Umwegen über die Grenzen geschmuggelt und in die Hafenplätze gebracht.

Im Jahre 1905 sind in Hamburg 7226 Personen eingetroffen, die in keiner Grenzkontrollstation gewesen sind.

Hiervon wurden aber schon 5485 Personen in Ruhleben bei Berlin angehalten und nur der Rest von 1741 Personen ist bis Hamburg durchgekommen.

Alle die 7226 Personen hatten schon Schiffskarten für die Hamburg-Amerika-Linie in Händen.

Ueber die Umgehungen der Grenzkontrollstationen will ich hier nicht weiter sprechen, denn es ist erwiesen, daß der große Strom der armen russischen Juden in der Zeit als die Unruhen in Rußland sich vergrößerten und als die Komités für die russischen Juden in Funktion getreten sind, sich nicht direkt nach Deutschland geworfen hat, denn die Grenzkontrollstationen waren ihm ein Hindernis. - Das Gros der ärmeren russischen Juden flüchtete nach Oesterreich und nach Rumänien.

Die Unruhen und die Verfolgungen der russischen Juden haben im Süden Russland begonnen und war der kurze Weg nach Oesterreich für die Flüchtlinge der günstigere.

An den Grenzen Oesterreichs und Rumäniens wohnen sehr viele Juden, die den Flüchtlingen den ersten Unterschlupf geboten haben, wenn auch zunächst mit der Aussicht auf Gewinn.

Die jüdische Allianz in Wien und ihre vielen Niederlassungen in anderen Orten sorgten für Verpflegung und weitere Unterbringung der Massen.

Nach und nach machte sich eine Ueberfüllung der Unterkunftsorte bemerkbar und vor allem war es Wien, welches täglich hunderte von mittellosen russischen Juden aufnehmen mußte.

Die Leute zogen nach Wien zur Allianz, um sich durch diese versorgen zu lassen.

In dieser Zeit sollen 50.000 russische Juden in Wien sich aufgehalten haben und aus den galizischen und ungarischen Städten wareng große Ansammlungen gemeldet.

Die Allianz hat mit dem Expedieren der russischen Juden nach Nord-Amerika, Süd-Amerika und nach England schleunigst beginnen müssen.

Sie hat große Mengen von Russen nach Nord- u. Süd-Amerika und nach England expediert und dabei immer die Agenten der Schiffsgesellschaft benachrichtigt, die ihr die besten Konditionen gemacht haben.

Auch die deutschen Schiffsgesellschaften haben sich an dem Geschäft beteiligt, doch haben sie bald die Fühlung mit der Allianz verloren.

Die größten Transporte der russischen Auswanderer sind den fremden Linien zugefallen.

Die Auswanderer für die fremden Linien haben sich so gemehrt, daß die deutschen Linien, um den Transporten zu begegnen, Registrierstationen eingerichtet haben (Ringerbrück).

Die Agenten der fremden Linien richteten sich dann so ein, daß sie mit ihren Transporten diese Registrierstationen umgangen haben.

Hier sind nun die großen Umgehungen entstanden, bei welchen eine Schiffsgesellschaft die andere zu umgehen versuchte.

Bei solchen Umgehungen durch Norddeutschland, wo die Auswanderung gut bekannt ist und welches die in die Hafenplätze führenden Wegen bewachen läßt, laufen die für fremde Linien arbeitenden Agenten die Gefahr, zum wenigsten kontrolliert zu werden.

Deshalb ziehen sie vor, mit ihren Transporten nach Süddeutschland hineinzugehen, um unbemerkt in ihre Hafenplätze zu gelanden.

Aus der anliegenden Zusammenstellung ist zu ersehen, welche Wege für diese Umgehungen benutzt und inwieweit diese durch Bayern geführt worden sind.

Kiliszewski