Aus dem Hamburger Staatsarchiv (Auswanderungsamt I, II E I 1b Beiheft 1)

Auswanderer an der deutsch-russischen Grenze: ein Bericht von 1891

(Unveränderte Wiedergabe des Original-Wortlauts)

5. Bericht an Dr. Sthamer
Prostken, den 25. Juli 1891

East Prussia in 1911

Über Kowno möchte ich noch bemerken, dass die Juden dort, wie überhaupt in ganz Rußland, befürchten, dass in nächster Zeit eine Juden-Hetze losbrechen wird.

Von Kowno kommend ging ich um 9 Uhr in Wirballen ein.

Ich machte mich auf den Weg nach dem Orte Wilkewischken, denn man man sagte mir in Kowno, dass von diesem Orte aus ein Transport über die Grenze gehen soll.

Nach einem Marsche von circa 50 Minuten begegnete ich einem aus 10 Wagen bestehenden Auswanderer-Zuge, welcher in der Richtung nach dem Dorfe Wysczniec fuhr.

Ich folgte dieser Abtheilung, – die ich zu erst begegnet habe, – nachdem sie mir vorbei war, auf 500 Schritte, so dass ich den Leuten nicht auffallen konnte.

Wir sind ungefähr ¾ Stunden marschiert, als mit einem Mal alle Wagen, wie auf Kommando, es wurde aber nicht gesprochen oder gerufen, zurückwendeten und in der Richtung auf mich zu sich sehr langsam in Bewegung setzten. Ich in an die Leute herangegangen und haben den ersten Führer gefragt wo sie hinfahren, dieser antwortete, „Sie sehen ja nach Wilkewischken“.

Wilkewischken ist der Ort den sie vor einer Stunde verlassen hatten. Das Vorwärtsbewegen der Wagen war ein sehr langsames.

Um mich zu überzeugen, was wohl weiter geschehen wird, bog ich von der Landstraße ab und ging einen Feldweg entlang.

Dort stellte ich mich an einen Baum und sah nun, daß mehrere Leute auf der Landstraße zur Grenze hin sich bewegten. Ein Mann schlug den Feldweg ein, in welchem ich stand, er sah mich nicht, denn er kehrte um, und ging zu den Wagen.

Nach einer ganzen Zeit bemerkte ich, daß die Wagen ihre alte Fahrrichtung eingenommen hatten. Auch konnte man in der Entfernung von 300-400 Metern die patrouillierenden Grenzwächter sehen. Diese tragen weisse Röcke, daher sehr leicht zu erkennen.

Die Wagen rückten langsam vor und konnte ich beobachten, daß dieselben schon nahe der Grenze sein müßen. Mit einem Mal hörte ich lautes Schreien rechts von meiner Stellung, die Wagen standen links, nun konnte ich sehen, wie mehrere Weißwächter dm Orte, von welchem der Schrei herkommen zueilten.

In demselben Augenblick jagten die Wagen los und über die Grenze, welche sie überschritten haben, den[n] ich sah weiter, daß sie gehalten haben und sich um die nun ihre Posten vom neuen einnehmenden Wärter garnicht kümmerten.

Als die Wagen losjagten fiel in der Ferne ein Schuß.

Die Nacht war hell, wir hatten Mondschein, und ich muß annehmen, daß ebenso gut wie ich die Wagen gesehen habe, sie auch die Wärter gesehen haben mußten. Die Grenze war nun durch die Grenzwärter abgesucht und besetzt, daher für mich ein Passieren nicht rathsam. Ich kehrte daher auf demselben Wege auf dem ich gekommen bin nach Wirballen zurück, erreicht diesen Ort um 1.45 Uhr und fuhr ich mit dem Zuge um 2 20 nach Eydtkuhnen.

In Eydtkuhnen habe ich die Herrn A. Schidorski und Glaser angetroffen und klärten mich diese über das Grenz-Comite auf.

Die Durchfuhr von Auswanderern betrug in diesem Monat 2000 Personen. Nach Hamburg reisen 500 Personen, es waren 180 Personen Selbstzahler, 160 Mittellose und sind circa 480 Leute zurückgewiesen.

Ausgaben pro Tag für Unterstützung 200 Mk, für Verpflegung 1000 Mk pro Woche. Die Verpflegung ist m.E. sehr theuer pro Tag und Kopf Mk. 2.

Zum Unterbringen der Leute soll in Eydtkuhnen eine Barake gebaut wwerden, der Platz ist von der Eisenbahn-Verwaltung bewilligt. Das Bauen der Barake spricht allein dafür, wie manhier über den Dauer der Auswanderung denkt.

Das Comite E. möchte auch einen s.g. [so genannten] Delegierten haben, die die Mitglieder durch ihr eigenes Geschäft sehr abgehalten werden. Ich hätte mir den Andrang über Eydtkuhnen größer vorgestellt, es gehen aber nur die mit Passen versehenen Leute nach Eydtkuhnen, alle ohne Paß nach Königsberg oder direkt nach Hamburg. Die Grenze ist hier sehr stark besetzt und ist das Zurückbringen der abgewiesenen Leute hier sehr schwer. Da man hier die Grenze nur mit Paß passieren kann, machen sich viele Leute ein Geschäft daraus, Pässe zu besorgen.

Ein unverheirateter Mann, welcher Aussicht hat einen Paß zu bekommen, bestellt sich einen Paß, für seine Frau und 6-10 Kinder und läßt er sich für diese Art über die Grenze schmuggeln.3-4 Rubel zahlen. Der auss. Paß kosten hier aber auch 15 Rubel.

Der Andrang beim Comite E. ist an den ersten Tagen der Woche größer als an den letzten derselben. Dieses bedingt der Sabbat, an welchem Tage kein Jude reisen darf.

Die Polizei in Eydtkuhnen (Grenz-Commissariat) mach dem Comite keine Schwierigkeiten, weist aber die Leute ohne Mittel gleich zurück. In E. lagern mehrere Familie die zurück sollen, aber nicht über die Grenze kommen können, weil Geld und Pässe fehlen.

DE'>Herr Glaser macht den Vorschlag, man möge in Hamburg den nach Amerika resp. England abreisenden Personen die Pässe abnehmen und diese Pässe dem Grenz-Comite überweisen, damit de Comites die zurückgesandten Leute auf diese Pässe dann über die grenze bringen.

Für die Grenze, an welcher alle Leute fast vom Schmuggel nur leben, wäre die Paßrückgabe ein feines Geschäft. Der Geschäftsgang beim Comite ist hier auch nicht genügend geregelt und laufen die Mitglieder in die Quartiere der Leute, um die so genannten Sichtungen vorzunehmen.

In Insterburg habe ich, um über diesen Ort weiter zu berichten, mit dem Stadtrath Elösser (Jude) über die Sperrung des Bahnhofes und der Stadt, sowie über Umleitung der Auswanderer ausgesprochen.

Die Polizei hat jetzt, durch Eingriff des H. Elösser, den Bahnhof freigegeben und dürfen Leute mit Ausweise vom Comite denselben, auch die Stadtbetreten. Das Revidieren nach Passen finde ich ohne Bedeutung, denn alle Pässe sind gefälscht.

DE'>Der Grenzort Prosken, welchen die ich heute erreicht habe, bekommt ebenso wie Eydtkuhnen, directe Bahnzufuhren der mit s.g. Pässen versehen Leute.

Prosken ist jetzt durch 800 Personen, die weiterbefördert sind, passiert worden. Die tägliche Zufuhr beträft 60-70 Personen. Man hat hier bis jetzt 52 Person ganz unterstützt, 200 Leute theilweise und ist der Rest der Auswanderer aus eigenen Kosten gefahren. Zurückgewiesen sind vom hier nur 80 Personen darunter drei aus Hamburg zurückgesandten Leute. Man will hier das Central Comite in Berlin veranlassen, die Eisenbahn-Verwaltung zur Ermässigung der Fahrpreise zu bestimmen. Dann währen hier durchgehende Wagen erwünscht, da in Korschen die Umladung sehr erschwert ist.

Wohnung und Verpflegung kostet à Person 1,25 Mk. Das Brod, welches hier verbraucht wird, kommt zollfrei von Russland.

Rechts und links von Prosken wird die Grenze viel vo Wilden passiert, jedoch gehen diese Leute nach Lyck und Johannisburg, um sich dort verladen zu lassen. Ich habe hier einen Auswanderer, den ich in Hamburg vernommen habe, angetroffen, dieser welcher von Hamburg zurückgesandt worden ist, hat hier den Leuten erzählt, daß er von New York komme, wo er nicht angenommen ist.

Der Mann möchte über die Grenze nach Rußland, kann aber nicht über, da er weder Geld noch Paß hat und ein Fuhrmann ohne Geld nicht arbeitet. Auch erzählte er hier beim Comite, daß man ihm sein Gepäck gestohlen hat und  er dadurch erst mittellos geworden ist. (In Hamburg aber hat er seine Sachen versetzt.)

Hier am Orte fehlt eine Agentur der Paketfahrt und mussten Leute die Schiffskarten haben wollen, erst nach Königsberg befördert werden.

Lyck wird nur von den s.g. Wilden angelaufen, dieses kleine Comitee hat mit den Leuten nichts zu thun, weil sie noch Geld besitzen und bis Königsberg selbst bezahlen. 10-15 Personen kommen hier in L. vor, diese reisen aber sofort ab und verursachen keine Kosten.

Das Schmuggel und daher auch Ausrauben der Leute ist in dieser Gegend auch im Flor, es gesellt sich dazu noch eine Art nach Hamburger Muster ausgeführter Ausbeutung durch die Wirthe und Litzer.

An der Grenze Lyck-Prosken kommen schon polnische Juden vor.

Ein Exemplar einer von Königsberg aus erlassen Warnung und ein Zeitungsausschnitt aus dem „Kleinen Journal“ füge ich gehorsamt bei.

Befehle bitte nach Thorn.

Kiliszewski